Viel Solidarität – aber auch Wirtschaftskrise, nationale Abschottung und Rückzug in die Kleinfamilie. Auf der Suche nach Antworten in einer schwierigen Zeit

Eine nicht gehaltene 1. Mai-Rede – von Daniel Lampart

Daniel Lampart

Nach wochenlangen Quarantänemassnahmen und grossen wirtschaftlichen Unsicherheiten sind wohl fast alle im Land irgendwie aufgewühlt. Es gibt viele grundsätzliche Sorgen und Fragen. In Bezug auf die wirtschaftliche Existenz und die Gesundheit. Aber auch Fragen, die man noch nicht zu stellen wagt. Oder die noch nicht einmal formuliert sind. Und auf die es daher erst recht noch keine Antworten gibt.

Die Solidarität seit Beginn der Pandemie-Massnahmen ist sehr berührend. Grosse Teile der Bevölkerung sind bereit, ein Opfer zu bringen, damit andere gesund bleiben oder im Spital weiterhin gut behandelt werden können. Die Schweiz verwandelte sich Mitte März völlig. Die Ellbogen-Seite des Landes verschwand – wie wenn sie nie existiert hätte. Plötzlich standen richtige und wichtige Fragen im Raum, etwa warum das Pflegepersonal nicht mehr verdienen würde. Oder warum ein Abbau des Service-Public wie beispielsweise im italienischen Gesundheitswesen dumm ist.  

Erschreckend war auf der anderen Seite aber auch, wie stark das gesellschaftliche Leben eingeschränkt wurde. Nicht gerade wie in China – aber ähnlich. Etwas zugespitzt stellt sich folgende, sehr unangenehme Frage: Können wir einer solchen Pandemie nur beikommen, wenn wir wichtige gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorübergehend ausser Kraft setzen? Geht es nur mit einem Rückzug in die Kleinfamilie? Mit enormen wirtschaftlichen Risiken? Indem wir den grenzüberschreitenden Austausch, die Migration und die demokratischen Rechte unterbinden? Diese schwierigen Fragen sollten möglichst bald gestellt und beantwortet werden. Eine fortschrittliche Gesellschaft muss dabei fortschrittliche Antworten finden.

Die Corona-Krise ist auch eine Weltwirtschaftskrise. Sie ist nicht die Finanzkrise von 2007/2008– aber Parallelen gibt es doch. Andrew Haldane, ein querdenkender Ökonom der Bank of England, analysierte die Finanzkrise vor einigen Jahren auch unter epidemiologischen Gesichtspunkten. Das Finanzsystem hätte sich im Rahmen der Globalisierung zu einer anfälligen, stark vernetzten Monokultur entwickelt. Bereits ein Krisenereignis reichte, um das ganze System anzustecken und existenziell zu gefährden. Um künftige Finanzkrisen zu verhindern, haben die Staaten dann einerseits präventive Massnahmen ergriffen – wie die Regulierung von Derivaten sowie die stärkere Trennung der Investmentbankings von anderen Bankgeschäften. Andererseits wurde das Finanzsystem krisenresistenter gemacht – durch grösser Kapital- und Liquiditätspuffer. Leider vermochten die durch die Rettungsmassnahmen wiedererstarkten Banken schärfere Massnahmen verhindern. Doch was eingeführt wurde, ist besser als nichts.

Von Massnahmen gegen allfällige künftige Corona-Krisen reden wir momentan noch nicht. Doch wir können uns auch von der Finanzkrise und den damaligen Ansätzen inspirieren lassen, wenn offene Gesellschaften besser gegen Pandemien geschützt werden sollen (Prävention und Schadenminderung im Krisenfall). Auch um nationalistischen und autoritär orientierten Vorschlägen ein fortschrittliches Konzept entgegenzuhalten.

Zurück zur Gegenwart: Die wirtschaftliche Lage der Schweizer Arbeitnehmenden ist nach wie vor sehr schwierig. Rund ein Drittel von ihnen ist in Kurzarbeit. Die Arbeitslosigkeit steigt besorgniserregend stark an. In etwas mehr als einem Monat gab es 35’000 Arbeitslose mehr. Das übersteigt alle bisherigen Erfahrungen. Besonders stark betroffen sind GeringverdienerInnen und Berufstätige, die es wirtschaftlich bereits vor der Krise schwer hatten. Wie Angestellte im Gastgewerbe oder im Detailhandel, Kulturschaffende oder Angestellte in persönlichen Dienstleistungen. Wer mit einem Lohn von 4000 oder 4500 Fr. auf Kurzarbeit gesetzt wird, erhält grundsätzlich nur noch 80 Prozent davon – also 3200 bis 3600 Fr. Das reicht dann in vielen Fällen definitiv nicht mehr zum Leben.

Im Gewerkschaftsalltag erhalten wir viele Zuschriften von älteren Arbeitnehmenden, die in der Krise entlassen wurden. Die Stellensuche schon vor der Krise schwierig. Nun haben die Betroffenen noch geringere Chancen, eine Stelle zu finden. Dazu kommt die Ambivalenz der «besonders gefährdeten Arbeitnehmenden». Diese machen sich ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit. Weil aber ältere Arbeitnehmende häufiger in dieser Gruppe vertreten sind, wird die Stellensuche für die Ü55 noch dornenvoller. Denn gewisse Arbeitgeber halten sich zurück, diese Personen anzustellen. Die Überbrückungsrente ist deshalb nötiger denn je.

Kaum ein Thema sind die Schwierigkeiten rund um das Homeoffice – vor allem wenn gleichzeitig Kinder betreut werden müssen. Das ist im Alltag kaum zu bewältigen. Dazu kommen die ungelösten finanziellen Probleme der Kinderbetreuungsstrukturen (KITAs). Es besteht die Gefahr, dass die mühsam aufgebauten Betreuungsstrukturen aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten verschwinden. Das darf nicht geschehen. Es braucht es sogar mehr Betreuungsplätze, denn die Grosseltern als «grösste Krippe» des Landes könnten noch eine Weile ausfallen.

Die Gewerkschaften haben sich in der Corona-Krise als handlungsfähig erwiesen. Der Bundesrat hat den gewerkschaftlichen Vorschlag übernommen, dass die «Löhne garantiert» werden müssen, um grössere wirtschaftliche und soziale Probleme zu verhindern. Er hat den von den Gewerkschaften geforderten Corona-Elternurlaub eingeführt, um die Betreuungsprobleme zu entschärfen. Weiter hat er die Kurzarbeit vereinfacht und die Leistungen für Arbeitslose ausgebaut, damit Aussteuerung verhindert werden können. Ohne Gewerkschaften wäre auch der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ein viel grösseres Problem.

Der Weg ist aber noch weit. Die Konjunkturaussichten sind trübe. Zwar wird in der Schweiz in vielen Branchen mit Schutzmassnahmen wieder einigermassen normal gearbeitet werden können. Die Weltwirtschaft ist jedoch in einem angeschlagenen Zustand, was offene Volkswirtschaften wie die Schweiz besonders zu spüren bekommen. Der überbewertete Franken verschärft die Probleme noch. Der internationale Tourismus ist zusammengebrochen. Aber auch im Inland werden Kulturschaffende noch länger warten müssen, bis sie wieder wie gewohnt auftreten können.

Der Handlungsbedarf ist dementsprechend gross. Das wichtigste ist der Erhalt der Kaufkraft und die Verhinderung von Entlassungen. Berufstätige mit unteren Löhnen müssen bei Kurzarbeit 100 Prozent Lohnersatz erhalten. Die Firmen erhalten vom Bund Milliarden an Staatshilfe. Nur schon deshalb darf es keine Entlassungen geben. Bund, Kantone und Gemeinden müssen die Probleme bei der ausserhäuslichen Kinderbetreuung rasch anpacken. Die Zeiten sind vorbei, wo alles auf die Frauen und die Eltern abgeschoben werden kann. Und die Gesundheitsmassnahmen am Arbeitsplatz müssen zusammen mit den Arbeitnehmenden entwickelt werden. Damit sich alle sicher fühlen.

Die Krise hat gezeigt, dass die Schweiz solidarischer sein kann, als viele gedacht haben. Darauf können und müssen wir für die Zukunft bauen. Das Ziel ist, dass die Krise zu einer besseren Gesellschaft führt – mit sozialer Sicherheit, Gesundheit, garantierten Freiheiten und Rechten sowie einer internationalen Offenheit. Für gewisse Elemente wie der Elternurlaub oder das Bewusstsein, wie wichtig ein starker Service Public ist, war die Corona-Krise hilfreich. Vor allem bei der internationalen Offenheit und den Grundrechten gibt es aber noch anspruchsvolle offene Fragen, die wir beantworten müssen. Doch wir haben keine Wahl. Nur wenn wir die Antworten finden, geht es vorwärts.